S. Braunschweig: Berufsbildung und Arbeitsalltag der Psychiatriepflege

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Titel
Zwischen Aufsicht und Betreuung. Berufsbildung und Arbeitsalltag der Psychiatriepflege am Beispiel der Basler Heil- und Pflegeanstalt Friedmatt, 1886–1960


Autor(en)
Braunschweig, Sabine
Erschienen
Zürich 2013: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
351 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sara Bernasconi, Historisches Seminar, Universität Zürich

Als 1886 in Basel die «Irrenanstalt» Friedmatt eröffnet wurde, kamen die Kranken, die bisher innerhalb der Stadtmauern untergebracht waren, zum Leben an den Stadtrand. Das bedeutete nicht weniger Aufmerksamkeit: Das Einrichten der kantonalen Anstalt mit rund 220 Betten ging mit einer zunehmenden Etablierung der Psychiatrie als wissenschaftliche Disziplin einher. Der damalige Direktor der Friedmatt leitete auch den ersten Lehrstuhl für Psychiatrie in Basel. In beiden Funktionen, als Arzt und Leiter, war er weit weg vom Ort des alltäglichen Geschehens in der Anstalt. Nah bei den Patienten/-innen waren die Pflegenden, die Sabine Braunschweig in ihrer sozialhistorischen Studie, entstanden aus ihrer 2012 an der Universität Basel verteidigten Dissertation, fokussiert.

Die ersten beiden Kapitel bereiten darauf vor: «Irrenwartung im 19. Jahrhundert» beginnt mit einer geographischen und strukturellen Rahmung der Anstalt mit statistischen Daten zu Geschlechterverhältnissen, Durchschnittsalter, Dienstdauer, schichtspezifischer Herkunft et cetera der Pflegenden. Abgerundet wird die soziale Verortung der Hauptakteure/-innen von der Schilderung ihrer idealen, aus Dienstvorschriften erschlossenen Rollen in der Anstalt. Viele Bilder und die Sprache machen die harten Arbeitsbedingungen der Pflegenden leicht vorstellbar: ungünstige Betreuungsverhältnisse, die Pflicht, auf dem Gelände zu wohnen, Heiratsverbot, enorm lange Arbeitszeiten (14 Stunden pro Tag, 90 Stunden die Woche), Nachtdienst und Kost der dritten Klasse. So blieb die Psychiatriepflege in der Friedmatt bis ins 20. Jahrhundert hinein ein «Durchgangsberuf»1 für Unterschichten in Not, der keiner Ausbildung bedurfte. Im Unterschied zur Kranken-
war in der Psychiatriepflege die Hälfte der Pflegenden männlich.

Den hohen Männeranteil gibt Braunschweig im zweiten Kapitel auch als einen der Hauptgründe dafür an, dass die Psychiatriepflegenden sich, mit Unterstützung der Gewerkschaft VPOD, organisieren konnten. Nach dem Ersten Weltkrieg erstritten sie sich von den Anstaltsleitungen höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten (S. 132). Das Kapitel zeichnet das schweizweite Seilziehen von Standesorganisationen und Berufsverbänden um die Etablierung der Ausbildung des psychiatrischen Pflegepersonals nach. Bezugspunkt war die sogenannte «Wärterfrage», die sich für Psychiater und Ärzte von Anfang an gestellt hatte. Eine gute Pflege würde entscheidend zum Therapieerfolg beitragen, den es, dem Vergleich mit der Medizin ausgesetzt, zu verbessern galt. Braunschweig verwendet für diesen Berufswerdungsprozess das von Angelika Wetterer erweiterte Konzept der Semi-Profession. 2 Den Ausschlag zur Verbesserung der Qualifikation des Pflegepersonals gaben nach dem Ersten Weltkrieg neben dem hohen Anteil an Männern die Einführung der 48-Stunden-Woche, die Organisation der Pflegenden und neue Behandlungsmethoden, die sogenannten somatischen Therapien.

Hohe Anforderungen an die Pflegenden stellte das No-Restraint-Regime, also die Beseitigung mechanischer Zwangsmittel, das schweizweit angewandt wurde. Wärterinnen und Wärter waren sowohl für die Betreuung der Kranken als auch die Einhaltung der Hausordnung zuständig, nahmen also eine Zwischenposition zwischen Kontrolle und Therapie ein. Die Pflegenden gerieten dadurch immer wieder in schwierige Situationen, welche im dritten und vierten Kapitel über den Anstaltsalltag beschrieben werden. Braunschweig rekonstruiert sie bis in die 1950er Jahre anhand breiten Verwaltungsschriftguts und Interviews mit ehemaligen Pflegerinnen und Pflegern. Ambivalente Momente erzeugte der Umgang mit Gewalt und Sexualität, mit Entweichungen und Suiziden, die oft nur als Auslassungen und Lücken in den Quellen und Gesprächen zu fassen sind (z.B. S. 152). Weil sie alleine auf dem Anstaltsgelände lebten und kaum Freitage hatten, waren die Pflegenden einer ähnlichen sozialen Kontrolle ausgesetzt wie die Patienten/ -innen. Das tiefe Sozialprestige des Berufs beförderte zudem die Furcht vor Stigmatisierung. Eindrücklich zeigt Braunschweig, wie die Distanz der Pflegenden zum Anstaltsdirektor grösser war als jene zu den Patienten/-innen, denen sie bezüglich Sprache und Herkunft näher standen (S. 176). Im vierten Kapitel wird die Rolle des Personals im sich in der Anstalt entwickelnden Aufschreibeverfahren untersucht, das Kern psychiatrischer Erkenntnis war und seit den somatischen Therapien den Anstaltsalltag strukturierte. Beobachten und rapportieren wurden Bestandteile der pflegerischen Tätigkeiten. In den Erzählungen der Interviewten wird zudem die pharmakologische Wende als grosse Veränderung im Anstaltsalltag erinnert und auch kritisch beurteilt. Die Friedmatt war Schweizer Vorreiterin und führte Largactil bereits 1953 ein (S. 210).

Kaum Spuren hinterlassen hat die Beteiligung der Pflegenden an eugenischen Massnahmen, die im fünften Kapitel untersucht werden. Eugenische Denkkonzepte sind in Lehrbüchern und Schriften von Psychiatern bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg auszumachen, für die Pflege in der Anstalt schienen sie nicht direkt relevant. Abtreibungen, Sterilisationen und Kastrationen fanden nicht in der psychiatrischen Anstalt, sondern in Krankenhäusern statt und benötigten von Gesetzes wegen das Einverständnis des Patienten / der Patientin. Bei Bevormundeten konnte es aber übergangen und in der Praxis erzwungen werden. Braunschweigs Studie endet mit folgendem Fazit: 1) In Klagen und Kritik von Patienten/- innen wird ein grosser Handlungsspielraum der Pflegenden um 1900 ersichtlich. Diese selbst thematisierten stärker ihre Angst, Fehler zu machen und bestraft zu werden. 2) Das anfänglich ausgeglichene Geschlechterverhältnis in der Pflege wurde in der Friedmatt vor dem Ersten Weltkrieg aus dem Gleichgewicht gebracht, als man begann, Pflegerinnen in ruhigen Männerabteilungen einzusetzen. Das brachte Einsparungen bei den Löhnen, weniger Kritik und mehr Macht für die Ärzte. 3) Der trotzdem hohe Anteil (40% im Jahr 1960) an männlichen Angestellten war der Hauptgrund, weshalb die Psychiatriepflege bessere Arbeitsbedingungen als die Krankenpflege hatte. Abschliessend plädiert Braunschweig dafür, Pflegegeschichte als ein Teil der Psychiatriegeschichte zu betrachten.

Die Vielfalt der Perspektiven, die Sabine Braunschweig dank der Breite des Quellenmaterials zeigen konnte, macht die Stärke der sozialhistorischen Studie aus. Diese krönt die jahrzehntelange, fundierte Beschäftigung der Autorin mit Schweizer Sozial-, Alltags- und Geschlechtergeschichte, unter anderem in ihrem in der Tradition der Geschichtsläden geführten «Büro für Sozialgeschichte». Der Detailreichtum und die flüssige Sprache des Buchs erzeugen einen Vorstellungsraum im Kopf der Leserin. Braunschweig schlägt darüber hinaus die Deutung vor, dass Geschlechterverhältnisse den Raum entscheidend prägten, in dem sich die Pflegeberufe entwickelten und veränderten. Andere, ihn durchkreuzende Dynamiken und seine Unabgeschlossenheit könnten in Zukunft mit Konzepten der Wissens- (und nicht Wissenschafts-)geschichte und unter Berücksichtigung materieller Kulturen weiter erforscht werden.
1 Braunschweig folgt dabei Dorothe Falkenstein, «Ein guter Wärter ist das vorzüglichste Heilmittel ...». Zur Entwicklung der Irrenpflege vom Durchgangs- zum Ausbildungsberuf, Frankfurt a.M. 2000.
2 Braunschweig folgt dabei Dorothe Falkenstein, «Ein guter Wärter ist das vorzüglichste Heilmittel ...». Zur Entwicklung der Irrenpflege vom Durchgangs- zum Ausbildungsberuf,

Zitierweise:
Sara Bernasconi: Rezension zu: Sabine Braunschweig, Zwischen Aufsicht und Betreuung. Berufsbildung und Arbeitsalltag der Psychiatriepflege am Beispiel der Basler Heil- und Pflegeanstalt Friedmatt, 1886–1960, Zürich: Chronos, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 464-466.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 464-466.

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